Klausur zum Sechzigsten

Zwischen Kontinuität und Veränderung

Im Oktober 1958 präsentierte Österreich auf der Brüsseler Weltausstellung das Zwanzg’ger Haus. Das heutige Belevedere 21 ist eine Ikone moderner Architektur.

Auf derselben Weltausstellung, nur einen Steinwurf von dem ultramodernen Bau entfernt, führte die Kolonialmacht Belgien ein kongolesisches Dorf samt Einwohnerschaft vor. Weiß gegen schwarz. Weiß über schwarz: 10 Jahre nach Kriegsende ermöglichte es eine der letzten großen Völkerschauen Europas den Besucher*innen, ihr Selbstverständnis der europäischen Überlegenheit zu stärken, indem die Abgrenzung gegenüber dem schwächeren Anderen als gesellschaftliches Erlebnis zelebriert wurde.

Die Brüsseler Weltausstellung wurde von 40 Millionen Menschen besucht. Mit dabei waren Besucher*innen aus Bregenz. Der Kontrast zwischen den zuvor nie gesehenen Stahlbetonbauten der Weltausstellung – etwa dem Atomium, dem Philips-Pavillon Le Corbusiers oder eben dem österreichischen Ausstellungsbeitrag – und der Völkerschau sowie den im WHO-Pavillion ausgestellten Bildern löwengesichtiger, leprabetroffener Menschen muss großen Eindruck gemacht haben: Hier die Weltmacht Belgien, dort „Unterentwicklung“.

Unkritischen Fortschrittsglauben und sorgsam kultivierte Überlegenheitsgefühle gab es damals und gibt es heute. Natürlich fällt die Entschlüsselung der rassistischen Sehgewohnheiten von damals viel leichter als die Überwindung gegenwärtiger Stereotype.
 
https://vimeo.com/263375448
 
Damals wie heute gab und gibt es neben dem Bedürfnis der Abgrenzung den zutiefst menschlichen Impuls, Not zu lindern und zu helfen. Daraus und aus dem Heilungsauftrag Jesu (Mt 10,8) entstand aus der Bregenzer Pfarrgemeinde St. Kolumban 1958 das Aussätzigen-Hilfswerk Österreich. Paradoxerweise gab gerade der Besuch der Brüsseler Weltausstellung dazu einen entscheidenden Impuls: Das Bedürfnis nach Abgrenzung vom Elend der Welt und der Wunsch zu helfen stehen in einer spannungsreichen Beziehung.

In den ersten Jahren konzentrierte sich das Leprahilfswerk ausschließlich auf die Überwindung der Lepra als einer extrem stigmatisierenden Krankheit: Lepra stigmatisiert, weil Jahrtausende lang keine Heilung möglich war. Leprabakterien zerstören Nerven. Das Alarmsystem Schmerz wird abgeschaltet. Der betroffene Mensch spürt Verletzungen und Entzündungen nicht mehr. Das kann zu grässlichen Verstümmelungen führen – und zu völliger sozialer Ausgrenzung, selbst wenn sich die Krankheit heute durch eine Kombination verschiedener Antibiotika verhältnismäßig gut therapieren lässt.
Lepra

Die Umbenennung des Aussätzigen-Hilfswerks 2018, im 60igsten Jahr des Bestehens der Organisation, trug den Forderungen der Betroffenen und der veränderten Epidemiologie Rechnung: Die Lepra-Fallzahlen sind so gering, dass ausschließlich auf Lepra konzentrierte Gesundheitsprogramme nicht sinnvoll und von der Weltgesundheitsorganisation zu Recht abgelehnt werden. Schon seit über zwanzig Jahren engagiert sich das Bregenzer Werk deshalb z.B. für die Überwindung der Tuberkulose.

Die zentrale Lernerfahrung aus der Lepra-Arbeit: Nötig ist die Stärkung der Basisgesundheitsversorgung und die Realisierung des Menschenrechts auf Gesundheit. Es geht darum, allen Menschen Zugänge zu annehmbarer, würdevoller und guter Gesundheitsversorgung zu garantieren. Der menschenrechtsbasierte Ansatz der Entwicklungszusammenarbeit denkt damit nicht nur daran „was fehlt“, sondern daran, was nachhaltig verändert werden muss – auch in Österreich, denn unser Tun oder Nicht-Handeln hat Auswirkungen auf die Gesundheit von uns selbst und die der Menschen weltweit.
Menschenrechte

Im Zentrum der Programmarbeit von plan:g – Partnerschaft für globale Gesundheit stehen damit Beratung zur Stärkung der Gesundheitssysteme sowie die partnerschaftliche Weiterentwicklung von Gesundheitsdienstleistungen. Stets geht es um das gute Gestalten von Veränderung.

Was tun? Was tun!

Ausgrenzung, Angst vor Krankheit, Veränderung von epidemiologischen Bedingungen – all das passiert nicht nur in armen, weit entfernten Ländern anderswo. Seit jeher und bis heute geschieht es auch bei uns. Mit dem Siechenhaus findet sich ein sehr sichtbares Zeichen dafür mitten in Bregenz.
 
 
Im „armen Sondersiechenhaus zu Bregenz“ lebten im Mittelalter von Lepra betroffene Menschen. Als „Siechen“ (Dahinsiechende, Leidende), als „Mieselsüchtige“ (als Elende) wurden sie bezeichnet. In Bregenz wurden sie „die armen Kindt“ oder „die armen Leuth“ genannt; einerseits ausgegrenzt, ausgestoßen, ihrer Freiheit und Rechte entmündigt; andererseits aber „als armes Kind“ in besonderer Weise als Kind Gottes gesehen. Schutzbedürftig und unterstützungswürdig waren diese Siechen verpflichtet, für ihre Wohltäter zu beten. Eine solche Almosen- und Abhängigkeitsbeziehung passt nicht zu unserem heutigen Verständnis gleichwürdiger Beziehungen und zu den Menschenrechten, die sich aus dem Ersten Testament und aus dem Wirken Jesu mitentwickelt haben.

Im Mittelalter war die Aussonderung (Sequestration) ein kirchliches Ritual, mit dem die Absonderung legitimiert wurde. Nachdem ein Mensch für aussätzig erklärt wurde, wurde diese Person in einer Leichenprozession vom Wohnhaus zur Siechenkapelle geführt. Eine Seelenmesse wurde gelesen. Dann wurde der kranke Mensch zum Friedhof getragen, in ein offenes Grab gestellt und vom Priester dreimal mit geweihter Erde beworfen. Sodann kam die Person ins Siechenhaus: Sie erhielt eine besondere Kleidung, mit der die „Aussätzigen“ erkannt werden konnten. Zudem mussten Leprabetroffene eine Klappe bei sich tragen, um sich laut bemerkbar zu machen.

In Österreich verschwand die Lepra gegen Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts. Ein Grund dafür dürften genetische Veränderungen gewesen sein. Es gab eine neue Nutzung der Siechenhäuser – das Siechenhaus in Bregenz wurde zum „allhiesiegen Arme-Leut Spital“. Die Funktion des Hauses blieb noch lange unverändert: Ein Ort der Isolation und Ausgrenzung von Menschen, die an ansteckenden, unheilbaren und „ekelerregenden“ Krankheiten litten und für die sich in der Gesellschaft kein Platz fand.

Krankheit und Gesundheit in der Einen Welt neu denken

Das Wegsperren der Kranken diente zur Vorsorge und als Schutz vor Ansteckung. Gleichzeitit schützte sich die Gesellschaft vor dem Anblick des Leids. Damit ist die Entwicklung vom Siechenhaus zum Armenhaus so aktuell wie die Verdrängung von Leid. Die komplexen wirtschaftlichen, sozialen, politischen Machtbeziehungen werden oft absichtsvoll übersehen übersehen. Statt Verantwortung zu übernehmen, wird das Handeln auf die Gabe von Almosen geben reduziert. 

Das Siechenhaus Bregenz ist damit ein herausfordernder und hilfreicher Ort, um zu bedenken, wie wir mit Kranken und marginalisierten Menschen heute umgehen, wie wir uns der Not in der Welt nähern und wie wir mit dem Thema „Mensch und Menschenrecht“ umgehen wollen.

Erste-Hilfe-Kurs

Die Mitarbeitenden von plan:g Partnerschaft für globale Gesundheit zogen sich zur Feier des Gründungsjubiläums zu einer Klausur in das historische Siechenhaus zurück.

Am Anfang stand praktische Hilfe: Um Gesundheit und Menschsein an diesem besonderem Ort in der Gemeinschaft des Teams zu erleben, wurde der fällige Erste-Hilfe-Kurs von einer erfahrenen plan:g-Ersthilfetrainerin durchgeführt.
 

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